Abstracts

Marijan Bobinac

Die Hingabe an den Rattenfänger
Zu Slobodan Šnajders Roman Doba mjedi (Die eherne Zeit, 2015)

Der kroatische Schriftsteller Slobodan Šnajder (1948), dessen Bühnenwerke seit den 1980er Jahren auch in deutschsprachigen Theatern erfolgreich aufgeführt werden, tritt in der letzten Zeit immer öfter als Erzählautor auf. Seinem neuesten Roman Doba mjedi (Die eherne Zeit, 2015), der in Kürze auch in deutscher Übersetzung erscheinen soll, ist eine besonders lebendige Rezeption widerfahren, nicht zuletzt auch wegen seiner Thematik, der literarisch selten behandelten Geschichte der kroatischen Donauschwaben. In der breit angelegten Romanhandlung wird die zweihundertjährige Präsenz der Deutschen in der ostkroatischen Provinz Slawonien, von ihrer Ansiedlung in der mariatheresianischen Zeit bis zur Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs, am Schicksal der Familie Kempf aufgerollt: Der Figur des Ahnherren Georg Kempf, der selbstsicher das Neuland im 18. Jahrhundert betritt, wird sein gleichnamiger Nachkomme im 20. Jahrhundert gegenübergestellt, ein schwankender Intellektueller, der zunächst als Angehöriger eines Waffen-SS-Verbandes in Polen kämpfen muss, daraufhin sich einer polnisch-russischen Partisaneneinheit anschließt und nach Kriegsende in die alte Heimat zurückkehrt. Im Unterschied zu den meisten anderen ‚Volksdeutschen’ kann Georg Đuka Kempf zwar im sozialistischen Jugoslawien bleiben und wird zunächst als dichterisches Talent gefeiert, eine Lebenserfüllung wird ihm allerdings versagt: Privat wie künstlerisch gescheitert wird er keine feste Identität aufbauen können und stirbt in völliger Vereinsamung. Die Vielzahl der Erzählperspektiven wird durch das Bewusstsein der Figur des Sohnes fokalisiert, ein Umstand, der auch auf Šnajders (auto)biographisches Verfahren hinweist, das der Autor selbst durch Hinweise auf die Lebensläufe seiner Familienangehörigen, v. a. seines Vaters, des kroatischen Schriftstellers Đuro Šnajder wiederholt bestätigt hat.
Zu den textlich-literarischen Konstruktionsprinzipien des Romans gehören auch zahlreiche mythologische Bezüge, die von Šnajder als Korrelat zur grundsätzlich tragisch gezeichneten Inszenierung der Geschichte Mittel- und Osteuropas herangezogen werden. Bereits der Titel des Romans – Die eherne Zeit – lässt an Hesiods Erzählung von den Weltzeitaltern denken, deren dritte Abfolge, das eherne (bronzene) Zeitalter, von Krieg und Gewalt geprägt ist; zwei weitere bedeutende mythologische Referenzen beziehen sich auf die alttestamentarische eherne Schlange, eigentlich ein metallenes Schlangenbild, von dessen Anblick man sich bei Schlangenbissen Rettung versprach, sowie auf die deutsche mittelalterliche Legende vom Rattenfänger von Hameln, der durch sein verführerisches Flötenspiel die Kinder der Stadt Hameln entführte (und mit ihnen eine Kolonie in Siebenbürgen gründete). Die mythologischen Aspekte mit den Koordinaten der historischen Wirklichkeit verschränkend und dabei auf neue-alte Rattenfänger und ihre ehernen Schlangen hinweisend, entwirft Šnajder eine imaginäre Welt, in der sich private und kollektive Schicksale in großen europäischen Katastrophen der Moderne widerspiegeln.

Hans Richard Brittnacher

Eginald Schlattners Trilogie der Siebenbürger Sachsen – Liebe und Verrat
unter den Bedingungen einer sozialistischen Diktatur

Die Siebenbürger Sachsen, eine deutschsprachige Minorität in Transsylvanien (die ihren Ursprung in Flandern, mittelrheinischen und moselfränkischen Regionen sowie in Luxemburg, keinesfalls in Sachsen) hat, war eine vitale Bevölkerungsgruppe, die mehrere Regimewechsel überstand. Im Abstand von nicht einmal 10 Jahren hat EginaldSchlattner (* 1933) drei umfangreiche, autobiographische Romane vorgelegte, in denen er das Leben und Leiden dieser Minderheit zu unterschiedlichen Krisenzeiten beschreibt: Der erste Roman, Der geköpfte Hahn von 1998, das Debüt des bereits 65jährigen Autors, spielt in den 20er und 30 Jahren des 20. Jahrhunderts und beschreibt, wie die Siebenbürger Sachsen unter dem Druck der Nachkriegsverhältnisse der rechtsnationale Propaganda erliegen, der letzte Roman, Das Klavier im Nebel (2005) konfrontiert eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Intellektuellen und einer rumänischen Kuhmagd mit dem politischen Neubeginn der 50er und 60er Jahre. Im zweiten Roman, Die Rote Handschuhe von 2000, kommt Schlattner auf das zentrale Ereignis seines Lebens zu sprechen: im Kronstädter Schriftstellerprozess von 1959 hatte er sich von der Securitate für belastende Aussagen gegen andere deutschsprachige Schriftsteller missbrauchen lassen. Der Roman schildert die Hintergründe des Prozesses, seine Folter, seine Aussage, aber auch seine Versuche, als Verräter und Ausgestoßener eine neue Orientierung zu finden. Die drei Romane Schlattners sind wegen ihrer Nähe zu einer kraftvollen, archaisierenden Tradition osteuropäischen Erzählens, wegen ihrer Vorliebe für skurrile, sogar groteske Details und der Fülle an folkloristischen Gestalten, aber auch wegen ihrer souveränen Montagetechnik vom Feuilleton hochgelobt wurden und haben ihm den Ruf des bedeutendsten auslandsdeutschen Erzählers der Gegenwart eingetragen. Andererseits überschattet der Verratsvorwurf seine Rezeption, auch wenn mittlerweile bekannt gewordene Dokumente zu einer Revision des Bildes vom Verräterdichter nötigen.

Annette Bühler-Dietrich

Schweiß, Hitze und Olivenöl – sinnliche Wahrnehmung als Weg der Reorientierung und Rekonstruktion in Alida Bremers Olivas Garten

Mit Hilfe eines Grenzgänger Stipendiums der Robert Bosch Stiftung kehrt Alida Bremer 2008 in ihre Heimat Dalmatien zurück und begibt sich auf die Spuren ihrer Familiengeschichte mütterlicherseits. In ihrem die Reise begleitenden Blog schreibt sie: „Dieser dickflüssige, gelatineartige Schweiß und diese erbarmungslose Hitze sind jene Wahrnehmungen, die mich seit Jahren verfolgen und sich in meinem Kopf in Worte formen wollen […] dickflüssig ist auch der heilige Saft der Oliven“ („Abschied von Vodice“, 12.9., 18:57, alidabremer.twoday.net). Diese physische Wahrnehmung verbindet sich mit der im Blog wiederholten Frage nach den Gefühlen der verstorbenen Familienmitglieder und dem Versuch „ihre Geschichte einfach zu spüren“ (ebd.). Ergebnis des Schreibprozesses ist der Roman Olivas Garten. Er rekonstruiert kroatische Geschichte des 20. Jahrhunderts als Familiengeschichte – und darin als Partisanengeschichte – und nimmt die Suchbewegung des physischen und affektiven Nachspürens ernst. Der Genuss verschiedener lokaler Lebensmittel wird zur Spur durch Raum und Zeit für die Reorientierung der Erzählerin selbst wie für die historisch-affektive Rekonstruktion. In der grün hervorgehobenen Stimme Olivas gerät die Erinnerung dieser statischen Figur mittels von Öl, Likören und Früchten in Bewegung und begleitet, nachspürend und achron, die chronologisch-analeptische Rekonstruktion der Reisekapitel.
Im Vortrag untersuche ich dieses Gespürte und Spürbare (Schweiß, Hitze, Nahrung, Hunger)als Zugang zur Erfahrung der Familienmitglieder und betrachte es in seinem Verhältnis zur Rekonstruktion diskursiver, faktenbasierter Geschichte. Ich gehe dazu von Sara Ahmeds The Cultural Politics of Emotion (2.A. 2014) und Queer Phenomenology (2006) aus.

Stephanie Catani

Zwischen den Bildern.
Bulgarien-Imaginationen im Spannungsfeld von Literatur und Fotografie bei Ilija Trojanow

Bulgarien erweist sich im Gesamtwerk des deutschsprachigen Autors und Essayisten Ilija Trojanow als Leitmotiv. Vom Debütroman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (1996) über die 2006 als Neufassung seines Reiseberichts Hundezeiten (1999) publizierte Reportage Die fingierte Revolution bis zum 2015 erschienenen Roman Macht und Widerstand: Die südosteuropäische Republik, jenes Land, aus dem Trojanows Familie flüchtete, als er selbst sechs Jahre alt war, bestimmt das literarische Schaffen des Autors maßgeblich. Der Umgang mit dem Herkunftsland erweist sich als ambivalenter. Einerseits geht Trojanow schonungslos und entlarvend mit der bulgarischen Zeitgeschichte, allen voran der Sozialistischen Ära, ins Gericht und setzt diese Kritik in Auseinandersetzung mit den problematischen politischen Strukturen der bulgarischen Gegenwart fort. Andererseits zeigt er daraus resultierende Konsequenzen mit einem empathischen Blick für den Alltag und das Schicksal jener Individuen, die den Preis für das Scheitern eines politischen und wirtschaftlichen Neuanfangs zahlen.
Der 2013 gemeinsam mit dem Fotografen Christian Muhrbeck veröffentlichte Erzählband Wo Orpheus begraben liegt inszeniert die bulgarische Gegenwart im intermedialen Dialog von Fotografie und Literatur. Der Vortrag möchte die darin enthaltenen Text-Bild-Korrelationen durchleuchten und zugleich jene Spannung untersuchen, die sowohl durch die intermediale Begegnung wie auch durch die Konfrontation der topografisch-politischen Bestandsaufnahme eines Landes mit den (bild-)poetisch festgehaltenen Porträts seiner Bewohner zustande kommt. Die Analyse der Erzähltexte sowie der S/W-Fotografien erfolgt mit Ausblick auf medienkomparatistische Positionen sowie auf die grundsätzliche Bulgarien-Thematik im Gesamtwerk Trojanows, die auch verbunden ist mit der selbstreflexiven Befragung seiner eigenen transkulturellen Identität.

Emily Eder

Migrationserfahrungen und Heimatbezug im Schweizerischen Familienroman

Für die Darstellung von Migrationserfahrungen scheint sich die Gattung des Familienromans besonders anzubieten. Die Familie stellt dabei die Rahmenstruktur für das Spannungsverhältnis von Identitätsbildung und Integration im Zielland einerseits und der Aufrechterhaltung von Traditionen sowie von familiären Bindungen in der Heimat andererseits dar. Dies soll anhand zweier Aspekte gezeigt werden: (1) Die Migrationserfahrungen sowie der erschwerte Heimatbezug werden innerhalb des Familienromans durch einen Generationenkonflikt zwischen den Kindern und ihren Eltern repräsentiert. Außerdem soll gezeigt werden, inwiefern sich bei der Kindergeneration (2) die Distanz zur Heimat in der graduellen Verdrängung der Muttersprache durch die Sprache der Zielgesellschaft ausdrückt. Diese beiden Thesen werden an den Beispielen Tauben fliegen auf (2010) von Melinda Nadj Abonji und Elefanten im Garten (2015) von Meral Kureyshi ausgearbeitet. Beide Autorinnen sind aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz migriert; diese Erfahrung haben sie mit in ihre autobiographisch geprägten Romane einfließen lassen.

Marijana Erstić

Meeresstille oder vom(Un)Vermögen der Sprache

Der Roman Meeresstille von Nicol Ljubić aus dem Jahr 2010 erzählt die Geschichte der Liebe zwischen Ana, der Tochter eines mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrechers und Robert, einem Mann kroatischer Abstammung, die sich vor allem in Berlin, in Den Haag und an der Nordsee abspielt. Annas Vater, der mutmaßliche Kriegsverbrecher, ist auch ein Shakespeare-Kenner und ein liebender Vater. Ana selbst spricht nicht über das Kriegsgeschehen. Evoziert nicht gerade diese Leerstelle das Schreckliche der Meeresstille? Welche Rolle spielt die Sprache des Gebietes, in dem sich das Grauen ereignet hat, und in der ein eigener Begriff für das Sinnbild der kontemplativen Ruhe existiert: die besagte Meeresstille – kroat. ,bonaca‘? Was bedeutet diese Sprache für die Protagonisten, was das Deutsche, was das Englische? Stößt Robert wegen der Nichtkenntnis des Kroatischen auf das Problem, den Krieg adäquat begreifen zu können? Oder handelt es sich um das (Un)Vermögen jeder Sprache, den Schrecken darzustellen? Aus formaler Sicht wird die ‚Ästhetik des Schreckens‘ untersucht, es werden Mittel analysiert, anhand der er die Narrativa des Schreckens erzeugt werden. Löst auch das im Roman Darge¬stel¬lte Erschütterung und Intensität aus, und überträgt es diese an die Leser? Eine ästhetische Aneignung solcher Er¬schütterung kann sich Karl Heinz Bohrer zufolge als eine Überlebensgrundlage erweisen – in der Literatur wie im ,wahren Leben‘. Doch wird nicht in Meeresstille durch das Schweigen und das sprachliche Unvermögen eben dieses Überleben (z.B. der Liebe) verhindert? Den oben genannten Fragen geht der Vortrag nach.

Marijana Jeleč

Wer warst du im Jugoslawienkrieg, Vater?
Zur Heimat- und Identitätssuche in Goran Vojnovićs Roman Vaters Land

In seinem jüngsten Roman Vaters Land (2016; Original: Jugoslavija, moja dežela, 2012) schickt der slowenische Schriftsteller Goran Vojnović seinen Ich-Erzähler, den aus Kroatien stammenden Sohn einer Slowenin und eines untergetauchten serbischen Offiziers der jugoslawischen Armee, auf eine Zeit- und Ortsreise durch das ehemalige Jugoslawien. Die Erkenntnis, dass der Vater ein gesuchter Kriegsverbrecher ist, wirft im Roman die Frage nach der eigenen Identität und der Zugehörigkeit auf. Die Reise durch Slowenien, Kroatien, Bosnien und Serbien entfaltet sich somit zu einer Reise in die Vergangenheit, einem Rückblick auf die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und der Suche nach der Wahrheit, auf gesellschaftlicher und persönlicher Ebene. Letzteres hängt vor allem mit der inszenierten Suche nach dem jahrelang tot geglaubten Vater zusammen, der wegen eines Massakers im kroatischen Slawonien vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auf der Flucht ist. Im Vordergrund stehen zudem die Fragen des menschlichen Gewissens, die Frage nach der Schuld des Vaters und die Frage, ob eine Versöhnung mit seiner Vergangenheit fast zwei Jahrzehnte später möglich ist. Gerade im Zusammenlaufen der Vater-Sohn-Beziehung und der Auseinandersetzung mit der lückenhaften Familienvergangenheit wird der Anspruch Vojnovićs deutlich, der Familiengeschichte als Spiegel der allgemeinen Geschichte Relevanz zuzuschreiben.

Jörg Jungmayr

Srebrenica in der deutschsprachigen dokumentarischen und fiktionalen Literatur: Emir Suljagić Srebrenica und Gerhard Roth Der Berg

In meinem Vortrag geht es um die Frage nach dem Verhältnis von dokumentarischer zu fiktionaler Literatur anhand von Emir Suljagićs Srebrenica-Bericht und Gerhard Roths „Der Berg“. Emir Suljagić, der nur als UNO-Dolmetscher das Massaker von Srebrenica überleben konnte, dokumentiert in seinen achronologisch angelegten „Notizen aus der Hölle“ die Geschehnisse von Srebrenica, wobei ihm in diesen Notaten eine „atmosphärische Verdichtung und gedankliche Durchdringung“ gelingt, „die weit ins Literarische hineinreicht“ (Andreas Breitenstein in der NZZ vom 07.03.2009), was nichts anderes bedeutet, als dass aus einer dokumentarischen Niederschrift Literatur wird. Den umgekehrten Weg lässt sich in Gerhard Roths Roman „Der Berg“ beobachten. In Form eines Thrillers erzählt Roth die abenteuerliche Odyssee des Journalisten Viktor Gartners. Gartner begibt sich auf die Suche nach dem serbischen Dichter Goran R., der „im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war“. Im Verlauf der Irrfahrt kristallisiert sich ein Diskurs heraus, der den medialen Umgang mit dem Massaker von Srebrenica im „Zerrspiegel“ der österreichischen Gesellschaft dokumentiert.

Slavija Kabić

„Für mich ist der Kanister ein Symbol.“ – Krieg und Nachkriegszeit in Romanen von
Nenad Veličković

Im Roman Logiergäste (1997; Original: Konačari, 1995) des bosnisch-herzegowinischen Schriftstellers Nenad Veličković (geb. 1962 in Sarajevo) werden die ersten Kriegsmonate im belagerten Sarajevo mit den Augen der Gymnasiastin Maja geschildert, die darüber ein Tagebuch führt. Eine Gruppe Menschen verschiedener Nationalitäten findet Zuflucht im Städtischen Museum, welches 1992 zum Schauplatz der Ereignisse, zum „Konak“ wird, in dem diese Leute Überlebensstrategien gegen das tödliche Chaos entwickeln und es mit bitterem Humor und Ironie bewältigen. Solidarität und Altruismus machen ihren Alltag, der sich durch die sozialen Bedingungen blitzartig ändert, jedoch erträglicher. Die Geburt des Kindes am Romanende ist als Hoffnung für die Älteren und Nachgeborenen zu verstehen, als der Krieg einmal zu Ende ist.
Wenn der Roman Logiergäste, eines der ersten Werke über den Krieg in Bosnien und der Herzegowina, als ein beeindruckendes Zeitdokument und eine hybride Zusammensetzung aus Jugendroman und Familienchronik gilt, so stellt der Roman Der Vater meiner Tochter (2003; Original: Otac moje kćeri, 2002; 2003) ein postmodernes Narrativ dar, in dem im Sarajevo der Nachkriegszeit ein vom Krieg traumatisierter Familienvater mit seiner am Kriegsanfang geborenen Tochter spricht und einen Anschluss an die Gegenwart zu finden versucht. Ihre Gespräche drehen sich um die Erinnerungen der Vaters an das Leben im Sozialismus, seine Kriegsjahre und das kulturelle, soziale und ideologische Durcheinander in der postkolonialen, kapitalistischen bosnisch-herzegowinischen Wendezeit.
Resignation und Pessimismus, Selbstmitleid und Angst bestimmen die psychische Fassung des Vaters, der am Ende allein bleibt, und sich überlegt, ob er seinen auf einer Webseite geschriebenen Roman – sein Leben – löschen soll.

Ivica Leovac

Inszenierung des Zusammenlebens in den Werken Heimkehr nach Maresi (1994) und Maresi: Eine Kindheit in einem donauschwäbischen Dorf (1999) von Johannes Weidenheim

Johannes Weidenheim, eigentlich Ladislaus Jakob Johannes Schmidt, wurde 1918 in Topola (Batschka, damals noch Österreich-Ungarn) geboren und ist im multiethnischen Milieu von Werbaß/Vrbas aufgewachsen. Seit der Vertreibung der Donauschwaben, Ende des Zweiten Weltkrieges, lebte er in Deutschland. Die verlorene pannonische Heimat ist im imaginären Ort Maresi leicht zu erkennen, wie auch sein Pseudonym, der von dem Namen “Vrbas” für Weidestammt. Heimkehr nach Maresi ist die Chronik eines multiethnischen Ortes, die zugleich auch die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen jener Zeiten widerspiegelt. Weidenheims Alter Ego und Protagonist Simon Lazar Messer gehtauch im zweiten Werk Maresi: Eine Kindheit in einem donauschwäbischen Dorfzum Ort seiner Kindheit. Wie in Heimkehr nach Maresi so erzählt und verbindet er zugleich auch hier Geschichten verschiedener Figuren unterschiedlicher ethnischer, religiöser und nationaler Zugehörigkeiten. Dieser Vortrag befasst sich mit Weidenheims Inszenierung des Zusammenlebens der Donauschwaben mit anderen Völkern in der pannonischen Tiefebene, sowohl in der Vergangenheit, als auch in der schriftstellerischen Gegenwart.

Goran Lovrić

Darstellung Südosteuropas in dokumentarisch-fiktionalen Reiseberichten: Karl Markus Gauß Zwanzig Lewa oder tot und Ulrike Schmitzer Die gestohlene Erinnerung

Im Vortrag wird die Darstellung Südosteuropas in zeitgenössischen österreichischen dokumentarisch-fiktionalen Reiseberichten behandelt. Einerseits handelt es sich um Ulrike Schmitzers autobiographisch untermalten Familien- und Reiseroman Die gestohlene Erinnerung (2015), in dem die Erzählerin sich gemeinsam mit ihrer Mutter auf die Suche nach den Wurzeln ihrer donauschwäbischen Familie, die im Laufe der Jahrzehnte im Familiengedächtnis fragmentarisch und lückenhaft überlebt haben, in der Wojwodina macht. Andererseits handelt es sich um vier Reiseberichte aus dem Band Zwanzig Lewa oder tot (2017) von Karl Markus Gauß, in dem der Autor mit einer für ihn typischen subjektiven und sich der Literatur annähernden essayistischen Erzählweise über seine Reisen durch die Republik Moldau, die Wojwodina, Kroatien und Bulgarien berichtet, wobei er verschiedene historische aber auch gegenwärtige gesellschaftliche und kulturelle Aspekte bearbeitet. Beide Werke verbinden die Thematisierung der Unzuverlässigkeit, Relativität und Beeinflussbarkeit des Erinnerns und das teils auch beabsichtigte Vergessen historischer Ereignisse, sowie die Suche nach den donauschwäbischen Wurzeln der Familien.

Eldi Grubišić Pulišelić

Die Generation der „Schlangentöter“. Das Kriegsmotiv in den Erzählungen von Jurica Pavičić

In den drei Geschichten, die in deutscher Sprache unter dem Titel „Helden“ (2015) veröffentlicht wurden, befasst sich Pavičić mit dem Thema des Vaterländischen Krieges in Kroatien. Die Handlung seiner Geschichten findet während des Krieges oder in der Nachkriegszeit statt. In der Geschichte „Der Schlangentöter“ ist der Erzähler sowohl Mitwirkender als auch Zeuge der Kriegsgeschehnisse. Auf dem Schlachtfeld, trifft er auf Toni, einen jungen Mann, der das Videospiel durch eine Panzerabwehrlenkwaffe ersetzt hat und im Kriegsgebiet Schlangen tötet und sammelt. Durch die Folgen unglücklicher Zustände wird der Schlangentöter zum Kriegsverbrecher und der Erzähler sein Mitschuldiger, was ihr Leben für immer verändert. Die Geschichte „Der Held“ geschieht viele Jahre nach dem Krieg. In dieser Geschichte stellt der Autor nicht nur die Frage nach der strafrechtlichen, sondern vor allem nach der moralischen Verantwortung all derer, die die Verbrechen hätten verhindern können, dies aber nicht einmal versucht haben. In der Geschichte „Der Schutzengel“ stellt der Krieg für manche die Verkörperung einer Erinnerung an die Zeit des qualvollen Todes dar, während es für die Anderen die einzige Welt ist, in der sie leben und lebend in den Erinnerungen und im pathetischen Ehrenkodex der Krieger begraben sind. Pavičić macht uns mit den tragischen (Anti)helden bekannt, die in der Vergangenheit gefangen geblieben sind und die sowohl sich selbst als auch den anderen das Recht auf ein Leben vorenthalten. In all diesen Geschichten forscht Pavičić nach der Bedeutung des Krieges im Leben der sogenannten gewöhnlichen Menschen, die, wenn der Krieg nicht gerade ihre Generation erfasst hätte, ihre friedliche, mehr oder weniger glückliche Bürgerexistenz gelebt hätten. Seine Figuren werden Opfer von historisch-politischen Verhältnissen, in deren Tod es nichts Heroisches gibt, genauso wenig wie in der Fortsetzung ihres Lebens. Sie bleiben für immer als die Generation der Schlangentöter gekennzeichnet, als Menschen, die irgendwo das Recht auf Glück verloren haben.

Bettina Rabelhofer

„Das Land, aus dem wir kamen, war unser gemeinsames Trauma.“
Affektivität und Sprache in Dubravka Ugrešićs Roman „Ministerium der Schmerzen“

Im Fokus meines Beitrags steht Affektivität im interkulturellen Kontext und ihre literarische Repräsentation, wie sie sich in der sogenannten ‚Migrationsliteratur‘ als symbolische Verdichtung von Möglichkeits- und Interaktionsräumen konturiert und auf die identitäre und damit auch affektive Verortung ihrer ProtagonistInnen fokussiert. Wenn innere Modelle von primären Beziehungserfahrungen im Lichte neuer Erfahrungen umstrukturiert werden müssen, verändern sich auch die identifikatorischen Bezugnahmen auf ‚Väterlichkeit‘ und ‚Mütterlichkeit‘. Mütterliche/väterliche Ersatzobjekte (z.B. ‚Muttersprache‘, ‚Vaterland‘) haben Surrogatcharakter, die kulturtypischen Elternsurrogate müssen durch kulturfremde ersetzt werden. Die innerpsychischen Affektstürme bei Migration – Neugier, Verzweiflung, Angst, Aggression, Trauer, Triumph – gleichen, so die Erkenntnisse interkultureller Psychotherapie (vgl. Machleidt 2009), sieht man vom psychosexuellen Entwicklungsschub ab, jenen der Adoleszenz und damit auch psychodynamischen Vorgängen in der frühen Individuations- und Ablösungsphase von den primären Bezugspersonen. Der Sprache als primärem Symbolsystem mag da unterschiedliche Funktion zukommen: Zum einen ist die ‚Muttersprache‘ unhintergehbar – als symbiotische Illusion ‚totaler Kommunikation‘ (die paradoxerweise in der frühen Mutter-Kind-Beziehung nahezu ohne Worte auskommt) ist sie hochgradig narzisstisch besetzt, zum anderen mag gerade die Sprache des Aufnahmelandes die Chance zur Erschließung affektiven Neulands in sich bergen und als Zugewinn an Möglichkeit in einer globalisierten Welt das Heimischwerden im Noch-Unvertrauten erleichtern oder das Traumatische der eigenen Vergangenheit („Die Sprache war unser gemeinsames Trauma“ – Ugresic 2004, S. 49) durch Zweit- und Drittsprachen abzupuffern („Darum pfefferte er das Unsrige mit Anglizismen. So klang es ihm erträglicher.“ – Ebda, S. 48).

Špela Virant

Veit Heinichens nordadriatische Kriminalromane

Veit Heinichen, 1957 in Villingen-Schwenningen geboren, lebt und arbeitet seit zwei Jahrzehnten in Triest. Seit 2001 hat er neun Kriminalromane veröffentlicht, deren Handlung vorwiegend in Triest und Umgebung spielen, im Karst und in Istrien. Die Hauptfigur, Commissario Proteo Laurenti, verfolgt Verbrecher, meistens geht es um organisiertes Verbrechen, die über die Grenzen hinweg operieren. Die Spannung der Romane wird anhand typischer, genre-spezifischer Handlungsmuster aufgebaut und durch Nebengeschichten, die über die Familie und die Freunde Laurentis erzählen, gelockert. Die besondere Qualität dieser Romane erwächst jedoch aus Heinichens Hintergrund-Recherchen, die sowohl die Gegenwart betreffen als auch auf die historischen Entwicklungen zurückgreifen, deren Folgen bis in die Gegenwart hinein reichen. So werden auch die schwierigen slowenisch-italienischen Beziehungen zur Zeit des italienischen Faschismus erläutert. Doch im Mittelpunkt steht doch die Gegenwart, die sich in den 16 Jahren seit dem Erscheinen des ersten Proteo-Laurenti-Krimis stätig verändert. Mit der Verschiebung der EU-Grenzen verändern sich auch die Strategien der Verbrechersyndikate aber auch der Verbrechensbekämpfung. Die Frage, die sich dabei stellt, ist jedoch, ob sich mit den sozialen und politischen Veränderungen der Welt, in der Heinichens Figuren verortet sind, auch Heinichens Schreibweise verändert hat und inwieweit diese Veränderungen die Genrekonventionen, von denen seine Detektivgeschichten anfangs ausgegangen sind, stetig modifizieren?

Petra Žagar-Šoštarić

Rijeka, Zagreb, Berlin, Paris oder Toscana – Räume der Migration und der Erinnerungen oder wenn der Wahnsinn zum letzten Zufluchtsort wird. Belladonna und EEG von Daša Drndić

Daša Drndić thematisiert offen und ohne Vorbehalt, die ohnehin schon kontrovers geführten Diskurse über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, Migration, Exil, Lager und Vernichtung, ebenso wie die Täter- und Opferrollen aus einer – so könnte man es festhalten – eigenen Sicht. In ihren letzten Romanen Belladonna (2012) und EEG (2016) vertieft sie ihre Thematik fast ins Unerträgliche. Das alltägliche gegenwärtige Leben ihrer Romanfiguren ist durchflochten mit schwermütigen und nicht selten schreckenerregenden Erlebnissen, Ereignissen und Geschichten aus der Vergangenheit, die durch Krankheit, Leid, Sterben und Tod ständig hinterfragt werden.
Es soll in dieser Arbeit gezeigt werden, wie die Autorin, anhand der in beiden Romanen vorhandenen fiktiven Figur, des MigrantenAndreas Ban, auf Schicksalsschläge und Zufluchtsorte der Menschen aufmerksam macht, und wie sie die Geschichten von und über Migranten als Opfer und Identitätssuchende entstehen und „sprechen lässt“. Dabei geht es einerseits um dargebotene Dokumente als Fakten und Ereignisse an und für sich und anderseits um die Art und Weise, in der diese in beiden Romanen im Zusammenhang mit der Migranten- und Opferthematik verflochten, dargestellt und inszeniert werden.
Die Autorin belebt in beiden Romanen gesellschaftlich unterdrückte Geschichten von und über Menschen mit Migrationshintergrund, die vor allem in sozio-politischer Hinsicht auf unterschiedlichen zeitlichen, räumlichen und geschichtlichen Ebenen, existentielle aber auch geistige Schäden erleiden mussten und zum Opfer gesellschaftlicher Systeme und Ordnungen wurden.

Yvonne Zivkovic

Erinnerung als Heimatpflicht? Vergangenheitsbewältigung im Werk von Marica Bodrožić

Obwohl Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien die zweitgrößte Gruppe der Gastarbeiterzuwanderer seit den 60er Jahren ausmachen, hat sich ihre Präsenz in der deutschsprachigen Literatur- und Kulturlandschaft erst in den letzten zwanzig Jahren etabliert. Marica Bodrožić, die als Gastarbeiterkind von Dalmatien nach Hessen kam, widmet sich in ihren jüngsten Prosawerken Mein weißer Frieden (2014) und Kirschholz und alte Gefühle (2012) der Vergangenheitsaufarbeitung im südosteuropäischen Raum, welche klar von der Nachkriegstradition westdeutscher Erinnerungsdiskurses geprägt ist. Bodrožićs kritisch-investigativer Blick richtet sich sowohl auf die eigene familiäre Erinnerung als auch kulturell-kollektive Gedächtnisprozesse. Was der deutschen literarischen und philosophischen Tradition der Vergangenheitsbewältigung zunächst zu widersprechen scheint ist Bodrožićs eigenwillig lyrische Sprachgewalt, die entschieden distanziert-nüchterne Narrative zurückweist. Dieser Vortrag soll untersuchen, inwiefern Bodrožićs Erinnerungspoetik Theodor W. Adornos Forderung nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit entspricht, und auf welche Weise diese – durch ihre ästhetische Form – zumindest herausgefordert wird. Indem Bodrožić sowohl den Jugoslawienkrieg als auch die faschistische Vergangenheit Kroatiens während des zweiten Weltkrieges als wichtige Erinnerungsorte im deutschen und gesamteuropäischen Vermächtnis von Krieg und Gewalt präsentiert, unterwandert sie vereinfachende Zuweisungen von kollektiver Schuld und Zugehörigkeit. Durch eine Sprache, welche bewusst mit Ästhetisierung und Pathos spielt (von Kritikern auch als „neoromantisch“ bezeichnet), aber ebenso die Frage des politischen Engagements stellt, reiht sich Bodrožić in die Tradition deutscher Schriftsteller wie W.G. Sebald und Hans Erich Nossack ein, welche auch die elegisch-prosaische Erinnerung an historische Gewalterlebnisse thematisieren. Die hybride Darstellung von Identität, welche für Bodrožićs Texte grundlegend ist, stellt dabei sowohl isolierte deutsche als auch kroatische Diskurse über Heimat und historische Schuld in Frage.